Ein Interview mit Familie Grün
Familien Grün ist seit 2019 auf Weltreise. Von der Schweiz ging es über den Kaukasus bis zur arabischen Halbinsel, durch den Oman und die UAE, weiter nach Zentralamerika. Aktuell sind Miriam, Didi und die beiden Kinder (3J. und 5J.) in Kolumbien. Im Interview erzählen sie eindrucksvoll von ihren Erlebnissen auf Reisen mit zwei Kleinkindern: Zwei Monate im Dschungel Costa Ricas, ein ungewöhnlicher Kontakt mit der Polizei in Armenien und mit indischen Gastarbeitern auf dem Spielplatz in Dubai. Sie erläutern ihre Idee von "Sicherheit" und erklären das Konzept von "weniger Tun, mehr Sein". Eine Reise zu den Einheimischen, auf abgelegenen Wegen, zu sich selbst und vor allem "ohne zu müssen, aber vieles zu dürfen".
Ourearthrocks: Guten Abend nach nach Kolumbien! Wie sah denn euer Tag denn bisher so aus?
Miriam: Hallo nach Deutschland! Wir sind heute auf 3000 Metern über dem Meeresspiegel aufgewacht und haben auf die wärmende Sonne gewartet, bevor wir uns aus dem Bett getraut haben. Morgens waren wir bei einer Familie zum Kaffee eingeladen, und die ältere Frau, die ihr Leben lang Landwirtschaft und eine 16-köpfige Großfamilie zusammengehalten hat, erzählte uns, wie sie alle Kinder zu Hause zur Welt gebracht hatte, weil es damals kein Krankenhaus gab. Dann sind wir von ihrem Haus zu einem Wasserfall gelaufen, und mussten unsere zwei Kinder mit Schokokeksen bestechen, damit sie die Strecke selber laufen.
Nicht besser, nicht schlechter - einfach anders
Ourearthrocks: Seit drei Wochen seid ihr nun in Kolumbien.....Wie ist euer erster Eindruck?
Miriam: Kolumbien ist einfach riesig! Hier gibt es so viele Menschen, so weite Distanzen, so viele Produkte zur Auswahl, so viele stolze Dialekte, und jede Menge verschiedene Landschaften. Wir schlafen oft in Ferienwohnungen und manchmal bei Einheimischen. Wir reisen mit einer befreundeten Familie, die hier ihre Verwandtschaft besucht.
Ourearthrocks: Was möchtet ihr euren Kindern unbedingt in Kolumbien zeigen?
Miriam: Ich würde ihnen gerne zeigen, wie schön und groß die Welt ist. Dass Menschen sehr unterschiedlich leben, aber dass das nicht unbedingt besser oder schlechter sein muss. Dass es aber auch nicht allen Menschen gleich gut geht, und manche einfach ein paar Probleme mehr im Leben haben. Wenn wir mit unserem Mietauto über die kolumbianische Autobahn zischen, sieht unsere 5-jährige Tochter viele venezolanische Flüchtlinge am Straßenrand und stellt einige Fragen. Ich wünsche mir, dass sie versteht, dass es genauso auch uns treffen könnte, und dass diese Menschen nicht schuld sind an ihrer Situation.
2 Rücksäcke mussen jetzt für vier Personen reichen
Ourearthrocks: Das klingt sehr reflektiert! Was hat euch die Weltreise bisher gelehrt?
Miriam: Wie wertvoll es ist, verschiedene Perspektiven zu hören, weil keine den Punkt ganz genau trifft. Dass wir nicht viel mehr als uns gegenseitig brauchen, und dass es trotzdem schön ist, eine Heimat und ein intaktes soziales Netz zu haben. Wie gerne wir Neues entdecken und dass das, was unsere Gesellschaft so wichtig findet, nämlich Arbeit und Optimierung, gar nicht so wichtig ist.
Ourearthrocks: Was beschreibt euren Reisestil besser: Backpacking oder Cluburlaub?
Miriam: Mein Mann und ich sind Herzblut-Backpacker. Früher hatten wir einfach ein Zelt dabei und sind durch das albanische Hinterland oder durch verlassene Täler in Kirgistan gelaufen oder getrampt. In einem Fünf-Sterne-Resort am Sandstrand fühlen wir uns einfach nicht wohl. Mit den Kindern haben wir einen Kompromiss gefunden. Wir fahren mit dem Bus wenn es geht, aber schlafen in einer Ferienwohnung. Wir suchen den Kontakt zu Einheimischen, aber haben auch unseren Wohlfühlbereich alleine. Alles, was wir dabei haben, passt aber weiterhin in unsere zwei Backpacker-Rucksäcke – nur das dies jetzt für vier Personen reichen muss und nicht mehr nur für zwei.
Wichtiges Kriterium: Krankenhaus in der Nähe
Ourearthrocks: Das klingt nach purer Unabhängigkeit!
Miriam: Ja, wir lieben die Freiheit, die ein bescheidener Lebensstil und ein leerer Terminkalender uns schenkt. Wir lieben es, unerwarteterweise ein faszinierendes Tal zu Fuß zu entdecken, und die Geschichten, die uns Menschen erzählen, die uns formen und begleiten. Wir lieben es auch, ein bisschen außerhalb von allem zu sein: Ohne die Erwartungen einer Gesellschaft, ohne zu müssen, aber vieles zu dürfen.
Ourearthrocks: Was eure persönliche Sicherheit betrifft, seid ihr sehr achtsam. Du und dein Mann, beide sehr bereist....Was für Tipps in Bezug auf sicheres Reisen mit Kindern, könnt ihr mit uns teilen?
Miriam: Ich würde immer die Einheimischen beobachten und fragen. Hier in Kolumbien habe ich keine Erfahrung damit, wann es brenzlig ist. Unsere Freunde sagen uns, in welchem Viertel wir mit dem Auto nicht anhalten, wann man abends nicht mehr aus dem Haus geht, wo wir uns wahrscheinlich eine Lebensmittelvergiftung einfangen werden. Wichtig ist ja auch mit kleinen Kindern: Gibt es gefährliche Tiere unter Blättern versteckt, vor welchen Parasiten muss man sich hüten? Ich fühle mich als Mama meistens dann wohl, wenn die medizinische Versorgung einigermaßen in Ordnung ist, und ich weiß, dass es in der Nähe ein gutes Krankenhaus gibt. Ich mache aber auch schon mal Sachen ohne groß zu überlegen, die dann vielleicht von außen unverantwortlich aussehen.
Ourearthrocks: Zum Beispiel?
Miriam: Vor einer Woche waren wir mitten auf dem Land, und ich fühlte mich so frei und ungebunden bei der einheimischen Familie. Da bin ich einfach raus zum Spazieren, damit meine Tochter in der Trage einschlafen kann. Als ich zurückkam, wurde schon hektisch nach mir gesucht. Denn die Straße führt weiter in den Wald, und der war früher von Guerilla-Kämpfern besetzt. Offiziell herrscht Frieden in Kolumbien, und doch vergessen die Menschen anscheinend nicht, wie schnell man zur falschen Zeit am falschen Ort sein kann. Für mich waren diese 30 Minuten draußen alleine so wichtig und heilsam, und es ist ja auch nichts passiert. Nächstes Mal müsste ich aber vorher noch einmal gut nachfragen, wie weit ich gehen darf.
Ourearthrocks: Gibt es Länder, die ihr per se ausschließt mit Kindern?
Miriam: Mein Mann würde wahrscheinlich auch nach Afghanistan als Familie reisen. Ich bin eher diejenige, die da bremst und ein Veto einlegt. Jetzt haben wir Kinder und die möchte ich nicht in Gefahr bringen. Wir wollten ursprünglich beispielsweise auch mal in den Iran reisen, weil unsere Freunde von dort so viel schwärmen. Gerade, als wir die Visa beantragen wollten, gab es Konflikte an der Meeresenge zu Dubai. Weil wir mit dem Schiff genau dort nach Dubai weiterfahren wollten, sind wir dann letztendlich nicht in den Iran gereist. Wir hoffen, wir können das ein andermal nachholen.
Ourearthrocks: Welche Situationen waren unschön?
Miriam: Ehrlich gesagt, am unwohlsten gefühlt haben wir uns in Manchester, als wir auf Zwischenstation waren. Wir hatten ein günstiges Hostelzimmer gebucht, und als wir zu Fuss durch das Viertel liefen, wurde uns immer mulmiger. Da ist mir ein Dorf in der Wüste der Arabischen Emirate wesentlich sympathischer.
Tipp bei Wanderameisen: Raus gehen und warten
Ourearthrocks: Vor Kolumbien wart ihr ja über ein Jahr in Costa Rica. Dort habt ihr unter anderem auch mehrere Monate im Dschungel gelebt. Wie seid ihr auf diese Idee gekommen?
Miriam: Costa Rica hat vor über 30 Jahren angefangen, das komplette Land aufzuforsten, und dementsprechend ist man an den meisten Orten eigentlich direkt im Dschungel. Es ist schon komisch, dass es so normal scheint, dass Affen bis zum Haus kommen, und die Tiere des Waldes nachts den Kompost auffressen, den man im Garten in ein Loch wirft. Wir haben über Kontakte Menschen kennengelernt, die eine Finca mitten im Regenwald betreiben, und durften zwei Monate bei ihnen wohnen. Mein Mann hat dort ein bisschen in der Werkstatt und bei der Gartenarbeit mitgeholfen.
Ourearthrocks: Im Dschungel in Costa Rica leben...das klingt für mich auch nach ziemlich vielen Insekten und Tieren....?
Miriam: Im tropischen Wald zu leben erfordert ziemlich viel Arbeit, weil ständig irgendwelche Termiten die Balken anknabbern oder wieder jemand eine Schlange töten muss, die sich auf die Toilette verirrt hat. Für mich war es total neu, dass man egal zu welcher Tageszeit nicht mehr als ein Paar Flipflops und einen Bikini braucht. Wenn sich in meinem alten Leben in Europa Ameisen in meine Küche verirrten, schob ich Panik. Und plötzlich musste ich damit leben, dass nachts Kakerlaken auf mich fielen, die bei ihrem Rundflug vom Deckenventilator getroffen wurden. Wir lebten ohne Fensterscheiben, alle offenen Lebensmittel verschwanden im Kühlschrank, und wir begannen, Kleider auszuschütteln, bevor wir sie anzogen. Am beeindruckendsten waren wohl die Wanderameisen: Große Ameisen überall, auf dem Boden, an der Wand, an der Decke, und wenn sie dich stechen, tut es zwei Tage lang weh. Am besten geht man dann einfach raus und wartet.
Ourearthrocks: Was nimmst du aus dieser Zeit mit?
Miriam: Für mich war es eine neue Erfahrung, dass die Natur so nah an mich herankommt und in meinen Rückzugsort eindringt. Ich bin ziemlich stolz, dass ich damit leben gelernt habe und es mittlerweile sehr schätze.
Unsere Kleider sind in den Kleiderschränken verschimmelt während dieser Zeit. Das war blöd, aber alles in allem war es ein tolles Erlebnis.
Ourearthrocks: Jetzt mal ein geographischer Sprung: Die arabsiche Halbinsel war ebenfalls ein Stop auf eurer Weltreise. Welches schöne Ereignis ist euch aus dieser Region besonders in Erinnerung geblieben?
Miriam: Nach mehreren Wochen Wüstentour mit einem Mietauto durch den Oman und die Emirate fuhren wir zurück nach Dubai. Wir hatten noch eine Woche Zeit und eigentlich nicht viele Erwartungen – was sollten wir denn in so einer bunten, ekelhaft künstlichen Stadt, in der niemand Interesse hatte, mit uns, den staubigen, blassen Ausländern, in Beziehung zu treten? Wir fuhren zu unserer Ferienwohnung in einem normalen Wohnhaus. Dort wohnten eingewanderte Inder, die als Bankangestellte oder Verkäufer arbeiteten, ihre Kinder auf indische Schulen schickten und gerade einen indischen Feiertag nach dem anderen feierten. Wir wurden sehr freundlich aufgenommen, plauderten stundenlang auf dem Spielplatz und chillten tagsüber am Gemeinschaftspool. Das war so unerwartet schön und ich habe mit einigen Familien noch bis heute Kontakt.
Der Gebetsteppich über die halbnackten Beine
Ourearthrocks: Mit der Polizei hattet ihr auch schon Kontakt...Aber ganz anders, als manch einer jetzt vielleicht denkt...Was ist da passiert?
Miriam: In Armenien machten wir einen Ausflug zum Sewan-See. Mein Mann, der gut russisch spricht, hatte im Vorfeld geregelt, dass wir am Abend von einem Bus abgeholt werden würden. Pünktlich standen wir also an der Straße, zwei Erwachsene, zwei verdreckte Rucksäcke, und zwei verfrorene Kinder, um auf den Bus zu warten. Es war überraschend sehr kalt geworden. Ich zog uns alle Kleider an, die ich finden konnte, während wir im Schatten der Abendsonne zitterten.
Ourearthrocks: Und dann hielt ganz unerwartet ein Polizeiauto...
Miriam: Genau. Ich erschrak ziemlich. Die zwei Polizisten hatten Standheizung in ihrem Auto und bestanden darauf, dass sich unsere Töchter auf dem Beifahrersitz aufwärmen. Sie legten ihnen einen Gebetsteppich über die halbnackten Beine. Leider konnten die zwei Dorfpolizisten kein Russisch, sonst hätten wir ihnen besser erklären können, dass unser Bus gleich kommt. Die Polizisten taten alles, um für uns eine Mietfahrgelegenheit zu finden. Sie konnten ja nicht mit ansehen, wie wir als Gäste in ihrem Land hilflos herumstehen, und auch noch mit zwei kleinen blonden Mädchen! Ziemlich schnell war ein Autofahrer gefunden, der uns bis vor unsere Wohnung fahren würde. Da half auch kein Flehen und Betteln, dass wir ja eigentlich… als wir dann auf die Rückbank gequetscht losfuhren, wurden wir gerade von einem hupenden Bus überholt.
Es geht nicht um das "Tun", sondern um das "Sein"
Ourearthrocks: Jetzt mal im Vergleich: Reisen alleine und Reisen mit Kindern. Was hättet ihr ohne eure Kinder niemals entdeckt?
Miriam: Manchmal trauere ich dem Reisen ohne Kinder hinterher, weil ich mich dann noch freier und unbeschwerter fühle. Unterwegs sein mit Kindern kann manchmal auch ganz schön anstrengend sein. Aber ohne Kinder hätte ich niemals gespürt, wie kinderfreundlich so viele Kulturen auf der Welt sind. Wie sie Familien hochhalten, wie einem geholfen wird, wie man ein Stein im Brett hat, einfach, weil man ein Baby bei sich hat. Ohne Kinder würde ich keine Freudenschreie ausstoßen, wenn ich einen Tausendfüßler sehe, und ich hätte wahrscheinlich nicht gelernt, dass es nicht immer ums Tun geht, sondern ganz viel ums Sein – auf Reisen und auf der Reise, die sich Leben nennt.
Ourearthrocks: Was möchtest du Eltern noch mit auf den Weg geben, die vielleicht auch mit einer Elternzeit-Reise liebäugeln?
Miriam: Ich möchte einfach allen Eltern Mut machen, dass sie ihre Träume nicht aufgeben. Kinder zu bekommen bedeutet ja nicht, dass man sich plötzlich in persönlichkeitslose Willenserfüller verwandelt, die ihren Zöglingen die Steine aus dem Weg räumen und ihre eigenen Wünsche in Schubladen sperren. Ich bin immer wieder überrascht, wie viel unsere Kinder sich uns doch anpassen, wenn sie merken, dass es uns wichtig ist. Das gilt natürlich nicht für jede Phase und Situation, aber ich bin sehr dankbar für diese Erfahrungen und nehme für mich mit, dass viel mehr möglich ist, als ich es mir vorher vorstellen kann.
Kommentar schreiben
Sandra (Sonntag, 07 Februar 2021 18:20)
Sehr schönes Interview von einer tollen Familie! Sind selbst seit nunmehr 5 Monaten unterwegd und gerade in Franz.Polynesien angekommen und genießen das Reisegefühl als Familie sehr! Eine wundervolle Zeit weiterhin! Liebste Grüße